Eine unabhängige und kritische Presse gibt es nicht im Vogelsbergkreis; es sei denn, man verststünde - wie im Vogelsberg ja nicht unüblich - unter den Begriffen "unabhängig" und "kritisch" etwas ganz anderes als der Rest der Welt. Im Vogelsberg ist man nur insofern "kritisch", als man "kritische Distanz" denjenigen gegenüber sucht, die ihre Meinungsäußerungen nicht an dem Ziel einer gewissen "Harmonie" mit der "Gemeinschaft" ausrichten. Denn das scheint in den Vogelsberger Seilschaften, die man gern hochtrabend als "Netzwerke" ausgibt, eine Art Überlebensprinzip noch aus vordemokratischer Zeit zu sein.
Analog dazu ist die im Vogelsberg beheimatete Presse gerade mal so unabhängig, dass sie - wie "Kreis-Anzeiger", "Oberhessische Zeitung" oder "Lauterbacher Anzeiger" - wortwörtlich nachdruckt, was in der Pressestelle des Kreishauses an wegweisenden Interpretationen der Wirklichkeit ausgegeben wird. Leicht zeitversetzt erscheint derselbe Text dann zumeist auch noch in den Anzeigenblättern und auf diversen Online-Presseportalen, bis auch wirklich jeder Vogelsbürger von der offiziellen Lesart der Kreisoberen Kenntnis genommen hat. Kritik und abweichende Auffassungen finden bestenfalls in der Leserbrief-Rubrik unter "Meinung" statt. Und diese Meinung (des Lesers) wird notfalls seitens der Redaktion nochmals kommentiert, wenn sie zu sehr von der vorgegebenen Linie abweicht. Und die lautet nun mal: "Alles gut" im Vogelsberg!
Glaubte man den Spitzenvertretern der Groko-Parteien im Kreistag (aber welcher ver-nünftige Mensch wäre so naiv?), so müssten die Vogelsbürger sich glücklich schätzen, in einem Landkreis zu leben, in dem die Lebensqualität kaum zu überbieten ist und es ständig nur aufwärts geht: mit der Wirtschaft, mit der Windkraft, mit dem Tourismus, mit dem Zuzug von Neubürgern. Das dokumentieren nicht zuletzt ein amtlich in Auftrag gegebener "Vogelsberg-Song", der Selbstbewusstsein und Optimismus ver-breiten soll, sowie ein Slogan-Wettbewerb als Teil einer Image-Kampagne, der mit so zündenden Parolen wie "Raus aus der Stadt - rein in die Natur" oder "Wo Kinder noch draußen spielen..." [Gähn!] aller Welt zeigt, wo im Vogelsberg Milch und Honig fließen.
Und jetzt kommt mir auch noch diese Pressemeldung des Vogelsbergkreises (textgleich als Artikel in der Oberhessischen Zeitung vom 05.09.2017, im Kreis Anzeiger, bei Ost-hessen-News, Oberhessen-live etc. pp.) auf den Schreibtisch:
Seniorenbeirat: Auch im Alter lässt es sich im Vogelsberg gut leben
Gut leben lässt es sich natürlich überall - je nach den individuellen Ansprüchen und der eigenen Lebenslage. Wer gesund ist, über satte Altersbezüge verfügt, komfortabel wohnt und sich auf ein intaktes soziales Umfeld stützt, kann es ohne Frage auch im Vogelsberg aushalten. Dass alle hier im Alter so gut leben, ist damit schließlich nicht gesagt. Nur warum teilt man der Öffentlichkeit eine solche Binse ausgerechnet namens des Kreisseniorenbeirats mit, der vielleicht gut daran täte, für die Belange derer einzu-treten, die nicht satt und zufrieden, sondern vereinsamt, arm, krank und sozial ausgegrenzt sind?
Gerade noch hatte man im Kreisseniorenbeirat zum "Kampf gegen die Einsamkeit im Alter" aufgerufen, was hoffentlich nicht nur von einer älteren Kolumne des SPIEGEL abgeschrieben, sondern als reales Problem erkannt worden war. Doch wenige Wochen später wollten Politik und Kreisverwaltung das Thema aus der öffentlichen Diskussion verbannen. Und so ließen sich die Seniorenvertreter verdonnern, doch lieber auf die schönen Dinge des Lebens abzuheben. Und so lautet gleich der erste Satz der "guten Nachricht" aus der Pressestelle:
"Auch im Alter lässt es sich im Vogelsberg gut leben. Dieses Fazit zumindest lässt sich nach der jüngsten Sitzung des Kreisseniorenbeirates ziehen, in der Vertreter aus nahezu allen Städten und Gemeinden die Angebote in ihren Kommunen vorstellten."
"Wir haben alles, was wir brauchen..." - Tatsächlich?
Man will uns hier also mitteilen, wie hochzufrieden die Seniorenvertreter und die von ihnen Vertretenen angesichts der Tatsache sein dürften, dass beispielsweise
• eine ganze Reihe von Vereinen und Initiativen sich um die Belange älterer Men-schen kümmere und auch andere Organisationen sich in der Seniorenarbeit engagierten (Vorträge, Fahrten),
• die Nachbarschaften in den kleinenen Dörfern noch hervorragend funktionierten und es
• gut besuchte Seniorentreffs wie den in Schotten gebe.
„Wir haben alles, was wir brauchen, das Mehrgenerationenhaus, die Nachbarschafts-hilfe“, wird da - sozusagen stellvertretend für alle betagten Vogelsbürger - der aus Romrod stammende Beirats-Senior zitiert. Ob man im ganzen Vogelsberg so wunschlos glücklich ist? Wohl nicht. Denn sonst hätte beispielsweise die CDU-Fraktion der Gemeinde Mücke (die liegt tatsächlich auch im Vogelsbergkreis!) am 12.07.2017 nicht nachfolgenden Antrag eingebracht:
„Der Gemeindevorstand wird gebeten, folgende Angebote für Senioren einzurichten: Einrichtung eines Demenzcafés; Einrichtung von Tagespflegeplätzen mit Unterstützung der entsprechenden Institutionen, z.B. Diakonie, Caritas, Rotes Kreuz, AWO; Förderung tagestrukturierender Maßnahmen.“
Ein Widerspruch, wie er krasser nicht sein könnte. Doch das stört offensichtlich niemanden im Kreishaus. Denn es stehen Landrats-Wahlen bevor. Und deshalb soll über das gesprochen werden, was auf der Haben-Seite steht, und nicht über Versäumnisse, die womöglich zu unerfreulichen Wahlentscheidungen führen könnten. Mängel? Defizite? Senioren etwa, um die sich niemand kümmert? "Dü gübt's hür nücht!" antworteten die Breitmaulfrösche auf die Frage der Störche, wo denn die leckeren Breitmaulfrösche zu finden wären. Dieselbe Antwort hätten die Senioren in den Städten und Gemeinden des Vogelsbergkreises geben müssen, wenn sie nach unabhängigen Seniorenvertretern gefragt worden wären, die sich pflichtgemäß ihrer Belange annehmen. Aber nach denen fragt man vielleicht besser gar nicht erst im heimatlichen Seniorenparadies!
Seniorenbeirat an der kurzen Leine
Wahlzeiten wären für den Kreisseniorenbeirat eigentlich eine gute Gelegenheit, die Interessen derjenigen ins Gedächtnis zu rufen, denen es nicht so gut geht. Nur wessen Interessen vertritt dieses Gremium? "Der Seniorenbeirat des Vogelsbergkreises setzt sich aktiv für die Belange der älteren Menschen im Vogelsbergkreis ein", heißt es in Paragraph 2 der Geschäftsordnung des Kreisseniorenbeirats. Doch wird er im Gegensatz dazu für die Belange von Kreispolitik und Kreisverwaltung instrumentalisiert und lässt sich das vor allem auch gefallen. Vorbei die Zeiten, da sich der heutige Landrat und damalige Bewerber um das Amt noch "mehr Mitbestimmungsrechte für die Senioren-vertreter im Vogelsbergkreis" gewünscht hatte. Ins Amt gelangt, installierte Görig den "Kreisseniorenbeirat" in Form einer "Kommission", um dort selbst den Vorsitz führen zu können, was Regierungspräsident Dr. Lars Witteck (CDU) allerdings umgehend untersagte. Die "Kommission" wurde daraufhin zwar in "Beirat" umgetauft, doch Görig beharrte weiter auf dem Vorsitz. Schon in Görigs Wahlkampf-Flyer aus dem Jahr 2011 stand der verräterische Satz: "Der Mensch muss im Vordergrund der Politik stehen und nicht die Vorschriften." Fragt sich nur noch, wie der Mensch wohl heißt, der da im Vordergrund stehen soll, während man es mit den Vorschriften nicht ganz so genau nimmt.
Erst seit Eintritt der CDU in eine große Koalition (2016) darf der Kreisseniorenbeirat einen Vorstand aus seiner Mitte wählen. Doch es blieb bei der "kurzen Leine" der Politik mit dem Ziel einer vollständigen Kontrolle der Seniorenvertreter. Die Ehre, in diesem Gremium sitzen zu dürfen, scheint im Übrigen so groß zu sein, dass erwachsene Menschen sich dafür mit denselben "Rechten" zufrieden geben, wie man sie dem bezeichnenderweise wesentlich früher (1992) gegründeten "Kinder- und Jugendparla-ment" zugesteht. Und gleich diesem gibt man sich mit der zweifelhaften Rolle eines Aushängeschilds zufrieden.
Trügerische Idylle
"Man kennt sich untereinander, man hilft sich gegenseitig, wir haben die Nachbar-schaftshilfe und wir achten aufeinander", hatte die Pressemeldung des Landkreises den Seniorenvertreter Ewald Hofmann aus Schwalmtal zitiert. Also alles bestens im Vogels-berg?
Nicht immer entlarvt die Realität die "bestellte" Schönfärberei auf so brutale Art wie in dem Fall einer Grebenhainer Bürgerin, die unter ungeklärten Umständen zu Tode kam und von ihrer Mitbewohnerin heimlich im Garten verscharrt wurde, damit diese weiterhin ihre Altersbezüge kassieren konnte. Das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL berichtete süffisant:
"Als ihre Freundin starb, grub Marie-Luise S. auf ihrem Grundstück in der Friedhof-straße im hessischen Grebenhain ein Loch, legte die Leiche hinein, schüttete es zu und bepflanzte es mit Tomatensetzlingen. [...] Diese Frau hat jahrelang den Tod ihrer Freundin verschwiegen, deren Rente und Pflegegeld kassiert und sich auf diesem Weg 135.653,90 Euro erschlichen."
So gut also kennt man sich und achtet man aufeinander in den kleinen Dörfern des Vogelsbergs, dass das Verschwinden einer Nachbarin über Jahre unbemerkt bleibt? Einen wirksamen Schutz gegen das immer und überall lauernde Böse scheint die acht-same Nachbarschaft jedenfalls nicht zu bieten, selbst wenn diese noch zusätzliche Verstärkung erhält wie durch den lokalen Nachbarschaftshilfe-Verein "Bürger für Bürger Grebenhain". "Das Dorf als Ort des 'guten Lebens', schreibt Claudia Neu in ihrem kritischen Essay zur "Neuen Ländlichkeit", "hat eine lange Tradition. Das 'gute Leben' meint aber heute zunehmend das gute individuelle Leben, nicht etwa ein besseres Leben für alle. [...] Die Solidarität zwischen prosperierenden Metropolen und darniederliegenden Regionen sinkt. Entlegene ländliche Räume werden ihrem Schicksal überlassen. [...] Vor diesem Hintergrund besteht die Gefahr, dass der allmähliche Abbau von Infrastrukturen, die schleichende Akzeptanz von Versorgungs-engpässen oder die Abwertung des öffentlichen Raums zu regionalen und kulturellen Eigenheiten umgedeutet werden. Verödete Räume werden in Kreativzonen umbenannt, Raumpioniere sollen sterbenden Dörfern neues Leben einhauchen, Dorfläden und Bürgerbusse müssen lokale Defizite ausgleichen. Die soziale Frage nach Gleichheit und Zusammenhalt wird auf der Suche nach dem 'guten Leben' emotional individualisiert. Diese Fragmentierung der sozialen Frage in Teilaspekte des 'guten Lebens', in private oder regionale Wohlfühlfaktoren, ist insofern besorgniserregend, da der Wert der gleichen Lebensverhältnisse ein zentrales, normatives und strukturelles Prinzip des sozialen Rechtsstaates der demokratischen Wohlfahrtsgesellschaft und des sozialen Zusammenhalts repräsentiert. [...] Die dörfliche Gemeinschaft, oft als Idealform menschlichen Zusammenlebens imaginiert, in der enge soziale Kontakte Geborgenheit und Sicherheit spenden, scheint nun auch für Politiker attraktiv, die nicht mehr wissen, wie sie die Konsequenzen des demografischen Wandels in den Griff bekommen sollen. Sorgende Gemeinschaft (caring community) heißt das Zauberwort. Mit dem Rückzug des Wohlfahrtsstaates aus einzelnen Bereichen der Daseinsvorsorge, beson-ders aber aus der Fläche, geht eine verstärkte Suche nach Kooperationspartnern und Allianzen mit Unternehmen und Bürgern einher. Gerade in ländlichen Räumen wird gerne an die 'ureigenen Kräfte' wie Nachbarschaftshilfe und bürgerschaftliches Engagement appelliert, um die Bürger auf ihre neuen 'Aufgaben', wie etwa die Unterstützung von pflegebedürftigen Nachbarn, vorzubereiten. Die heimeligen Begriffe 'Nachbarschaftshilfe', 'Solidarität' und 'Gemeinschaft' verschleiern aber letztlich nur, dass die Kosten für die wegbrechenden sozialen und kulturellen Daseinsvorsorge-leistungen mehr und mehr privatisiert werden, während die Anforderungen an die individuellen Bewältigungskompetenzen steigen. War es ein wohlfahrtstaatlicher Gewinn, dass im Notfall Hilfe- und Unterstützungsleistungen zuverlässig zu erwarten waren, so schwindet diese Sicherheit mehr und mehr. Mit dem Hinweis auf das genuin Dörfliche wird Solidarität refamilialisiert und mithin wieder Angelegenheit lieber Verwandter und wohlmeinender Nachbarn."
Und da wären ja auch noch andere Indizien für die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit, Dichtung und Wahrheit. Zum Exempel die stetige „Zunahme sehr komplizierter Fälle“ im Bereich der rechtlichen Betreuung und die hierdurch notwendig gewordene starke personelle Aufstockung im Bereich der Behördenbetreuer, die für diejenigen zuständig sind, die ihre Angelegenheiten nicht mehr selbst regeln können, aber offensichtlich auch keine Vertrauenspersonen mehr haben, denen sie eine Vorsorgevollmacht erteilen könnten. Auch das will so gar nicht zu dem idyllischen Bild von der gut funktionierenden Vogelsberger Nachbarschaft passen.
Ein Beirat, den die Welt nicht braucht...
Sieht der Kreisseniorenbeirat, einst par ordre du mufti als "Kommission" ohne seriöse Verankerung in den einzelnen Kommunen (in der Hälfte der Städte und Gemeinden gibt es auf lokaler Ebene keine Seniorenbeiräte!) aus der Taufe gehoben, sieht diese Versammlung "sachkundiger Personen" ohne Sachkundenachweis, die aus den 19 Städten und Gemeinden des Vogelsbergkreises "entsandt" wurden (ich verkneife mir Bismarcks süffisante Unterscheidung von Gesandten und Geschickten an dieser Stelle ausdrücklich... nicht!), für sich eigentlich keine dringlichere Aufgabe, als die aus der "Altenarbeit" vergangener Zeiten hinlänglich bekannten, zur Lösung der herauf-ziehenden Versorgungskrise jedoch vollkommen ungeeigneten Senioren-Veranstal-tungen ihrer heimischen Kommunen anzupreisen?
Nach meiner Kenntnis (und der im Rest der Welt verbreiteten Auffassung) wurden Seniorenbeiräte geschaffen, um "die spezifischen Interessen der älteren Menschen in politische Entscheidungsprozesse, gegenüber der Verwaltung und der Wirtschaft und im kulturellen und sozialen Bereich einzubringen" (vgl. Landesseniorenvertretung Hessen). Schon dafür dürfte die Zeit in den ja nicht gerade übertrieben häufigen Zu-sammenkünften des Kreisseniorenbeirats (laut Geschäftsordnung drei Mal pro Jahr!) sehr knapp bemessen sein. Doch im Vogelsbergkreis scheint die Funktion einer Seniorenvertretung in ihr Gegenteil verkehrt: Hier werden vor allem die Positionen des Landrats bzw. des Kreisausschusses in Seniorenfragen gegenüber der Öffentlichkeit zur Geltung gebracht. Und die sind nun mal weder von Problembewusstsein oder Sach-kenntnis noch von vorausschauendem Denken geprägt. Auch hier wieder Begriffs- verwirrung und Etikettenschwindel.
Die Öffentlichkeitsarbeit des Vogelsbergkreises - die des Kreisseniorenbeirats behält sich der Landrat ausdrücklich persönlich vor (warum?) - hat kaum einmal die saubere Analyse („Wie geht’s den Menschen?“ "Welche Aufgaben stellen sich für die Zukunft?") zum Ziel. Sie dient überwiegend dem Eigenlob des Landrats und seiner Entourage und ist nicht selten auf billige Effekthascherei bedacht: Flashmob vorm Supermarkt, "E-Partizipation", ein "Aktionsprogramm Regionale Daseinsvorsorge", das überwiegend aus Strohfeuer-Projekten wie "Kaffmobil" und "E-Mobilität" besteht, zuletzt ein reichlich verunglückter Vogelsbergslogan-Wettbewerb. All die komplexen Zukunftsplanungen auf hohem wissenschaftlichen Niveau, mit denen sich heute moderne Kommunen dem demografischen Wandel, dem Pflegenotstand, der Altersarmut, der Vereinsamung Alleinstehender, der Überlastung pflegender Angehöriger bzw. der sich prognostisch verringernden Pflegebereitschaft in den Familien, der Versorgung einer wachsenden Zahl Hochbetagter mit demenziellen Erkrankungen usw., usw. stellen, finden im Vogelsbergkreis praktisch nicht statt. Bundesweite Kampagnen wie "Demenzfreund-liche Kommunen", "Lokale Allianzen für Demenz", "Demenz-Partner" usw. werden ignoriert. Projekte für ein gutes Leben im Alter (man vergleiche nur einmal die Situation im Nachbar-Landkreis Marburg /Biedenkopf) werden kaum thematisiert geschweige denn unterstützt. Engagementförderung und Bürgerbeteiligung werden auf ein provinzielles und paternalistisches Niveau bzw. auf So-tun-als-ob-Aktionen reduziert. Der fachliche Diskurs über den demografischen Wandel ist von dem im Rest der Republik vollständig abgekoppelt, obwohl der Vogelsbergkreis von seinen Folgen mit am härtesten betroffen ist und die Zeit für sinnvolle Maßnahmen zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen gnadenlos verrinnt.
"Der demografische Wandel", heißt es in den Seniorenpolitischen Leitlinien für den Landkreis Marburg-Biedenkopf, "gewährt den Kommunen noch ein Zeitfenster von 10 bis 15 Jahren, um ihre Altenhilfe- und Pflegestrukturen anzupassen. Zu diesem Schluss kommt eine Untersuchung der Universität Potsdam im Auftrag der Bertelsmann Stiftung. Es ist also folgerichtig, dass der Landkreis Marburg/Biedenkopf die Senioren-politik ganz oben auf die Agenda gesetzt hat." Und selbstverständlich werden die Adressaten dieses Anpassungsprozesses der Altenhilfe- und Pflegestrukturen gebührend ernst genommen:
"Die verstärkte Einbeziehung von Senior/-innen in die Entscheidungen von Politik und Verwaltung ist wichtig, um die Anliegen der „Expert/-innen in eigener Sache“ aus-reichend berücksichtigen zu können und gemeinsame Lösungen für Problemstellungen zu entwickeln. Dazu ist die Entwicklung entsprechender Beteiligungsformate notwendig."
Ganz oben auf der Agenda des Vogelsbergkreises stehen verschnarchte Formate aus Großmutters Zeiten wie Seniorennachmittage und Ausflugsfahrten. "Was freiwilliges Engagement für die Regionen leistet" (vgl. die Schrift: Die demografische Lage der Nation", hrsg. vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, Berlin 2011, S. 4f., S. 82ff. und S. 134ff.), wird in seinen Dimensionen gar nicht erfasst. Dementsprechend stößt die Forderung des Berlin-Instituts: "Wer eine aktive Bürgergesellschaft will, muss systematisch und langfristig Möglichkeiten des Engagements schaffen und auch mehr Einmischung und Mitsprache zulassen", im Vogelsbergkreis auf taube Ohren. Denn man will gar keine aktive Bürgergesellschaft. Bürgerbeteiligung erfolgt nach Guts-herrenart bzw. folgt den Regeln persönlichen Machterhalts. Geregelte Zugänge für beteiligungswillige Bürger, die allen Bevölkerungsgruppen Mitsprache nach einem repräsentativen Schlüssel ermöglichen, gibt es nicht. Stattdessen lädt der Landrat zu Honoratiorenrunden ein (Sparkassendirektor & Co!), die je nach Bedarf mit Kreisbediensteten und Kinder- und Jugendparlament oder Kreisseniorenbeirat aufgefüllt werden. Honi soit qui mal y pense.
PR-Tricks und alternative Fakten
Um dem nur allzu berechtigten Eindruck entgegen zu wirken, als würden Politik und Verwaltung im Vogelsbergkreis den Aufgaben der Zukunft gar nicht gerecht, greifen die PR-Strategen in Hessens grasbewachsener und entvölkerter Mitte zu diversen Tricks. Das in diesem Zusammenhang suggestiv verbreitete "Wir haben alles, was wir brauchen"- Narrativ, mit dessen Hilfe diejenigen, denen es gut geht, kritische Stimmen übertönen und ihre vom Schicksal weniger begünstigten Mitbürger mundtot machen sollen, wurde oben bereits vorgestellt.
Weil die Behauptung, es sei bereits an alles gedacht und fehle an nichts, der Wirklich-keit Hohn spricht, sattelt man aus dem Arsenal des Barons Münchhausen und der Grimm'schen Hausmärchen noch kräftig drauf. Wenn zum Beispiel für den gesamten Landkreis zwecks Verbesserung der Versorgungssituation irgendwo gerade mal eine Einrichtung oder einige wenige Angebote geschaffen wurden, tut man einfach so, als sei die flächendeckende Vollversorgung damit schon fast geschafft und praktisch nur noch eine Frage der Zeit.
Da aber auch weiterhin nur ein Pflegestützpunkt für 106.000 Kreisbewohner (es müss-ten nach ministeriellem Schlüssel derer fünf sein!), eine Gesprächsgruppe für Ange-hörige von Demenzkranken, ein Mehrgenerationenhaus (Romrod) usw. existieren und der Vogelsbergkreis damit auf die sozialen Herausforderungen der Zukunft so schlecht vorbereitet ist, wie es schlechter kaum sein könnte, zaubert man - Tischlein deck' dich, Riedesel streck' dich - gleich komplette blühende Versorgungslandschaften aus dem Hut.
So ist etwa die in dem Beitrag "Auch im Alter lässt es sich im Vogelsberg gut leben" aufgestellte Behauptung, "in den meisten Kommunen [gäbe es] eine als Verein eingetragene Nachbarschaftshilfe, die im Notfall einspringt und Senioren unterstützt - etwa bei Krankheit oder nach einem Unfall", nur als äußerst mutig zu bezeichnen. Zwar existieren derartige Vereine in Angersbach/Landenhausen, Grebenhain, Maar, Lautertal, Schotten, Schlitz und Schwalmtal, also an gerade mal acht Standorten (bei 186 Vogelsberg-Ortschaften!), tatsächlich. Doch decken diese nur einen ganz geringen Teil des Bedarfs an versorgungsrelevanten Leistungen (z.B. für die noch in eigenen Häusern/Wohnungen lebenden Hochbetagten ohne Pflegegrad, die aber aufgrund eingeschränkter Alltagsfähigkeiten einen regelmäßigen Unterstützungsbedarf auf-weisen). Die Angebote von Nachbarschaftshilfe-Vereinen beschränken sich schon aus steuerrechtlichen Gründen auf gelegentliche Gefälligkeiten und gelten entsprechend der Definition von "Nachbarschaft" nur dann nicht als Schwarzarbeit, wenn sie zwischen Personen vereinbart werden, die
• zueinander eine persönliche Beziehung pflegen,
• in gewisser räumlicher Nähe wohnen und
• einen gegenseitigen Austausch von Gefälligkeiten beabsichtigen.
Ein gravierender Nachteil der Nachbarschaftshilfe-Vereine besteht in der Unverbind-lichkeit der im Gegensatz dazu oft recht bürokratisch zu dokumentierenden Hilfe-Vereinbarungen. Ob die vereinbarten Leistungen überhaupt zuverlässig erbracht werden können, hängt davon ab, dass gerade ein Aktiver zur Verfügung steht, der Zeit und Lust hat, den entsprechenden Auftrag zu übernehmen. In aller Regel sind zudem die Mitarbeiter der Nachbarschaftshilfe-Vereine völlig ungeschult, was im Fall des Einsatzes "bei Krankheit oder nach einem Unfall" durchaus zur Überforderung führen kann, von anderen Problemen (etwa bei Menschen mit Demenz) gar nicht zu reden. Deshalb geht zum Beispiel der Bürgerverein "Leben und Alt werden in Mardorf und Umgebung e.V." einen konsequent anderen Weg!).
Nachbarschaftshilfe läuft im Übrigen keineswegs so "rund", wie es von ihren Propagan-disten gern dargestellt wird, und ist zur Herstellung von Versorgungssicherheit für die noch in den eigenen vier Wänden lebenden Senioren als Hauptzielgruppe schlichtweg das falsche Format! [By the way: Von der ersten bis zur achten Gründung eines Vogelsberger Nachbarschaftshilfe-Vereins hat es über zwanzig Jahre gebraucht. Man kann sich also ausrechnen, wie lange es bis zur flächendeckenden Versorgung des Landkreises noch dauern würde.] Ein Forschungsprojekt der Hochschule Fulda zum Thema Nachbarschaftshilfe-Vereine (BUSLAR) kam nach ursprünglich eher affirma-tiven Ansätzen zu dem Ergebnis, dass Bürgerhilfevereine eventuell "neue Wege gehen" sollten. Als alternative Organisationsform käme etwa eine Genossenschaft in Frage. „Man investiert etwas, bekommt aber auch etwas zurück.“ Möglicherweise steige so auch die Bereitschaft, Dienste anzunehmen. Vor allem aber wäre damit ein höherer Grad an Verbindlichkeit gegeben, "da Vereine an ihre Grenzen stoßen, sobald rührige Mitglieder ausscheiden." Probleme entstünden auch, "wenn finanzschwache Kommu-nen die Daseinsvorsorge für ältere Menschen ganz an das Ehrenamt delegier[t]en, das aber strukturell keine Kontinuität garantieren" könne.
Gern wird im Zusammenhang mit dem Einwand einer nicht flächendeckenden Ver-sorgung ins Feld geführt, dass die Nachbarschaftshilfe-Vereine in der Lage seien, sämtliche Ortsteile einer Gemeinde zu versorgen oder sogar "interkommunal" zu agieren. Doch hat gerade dies mit Nachbarschaft (= räumliche Wohn- und Siedlungs-nähe) überhaupt nichts mehr zu tun und führt u.U. (z.B. bei Erhebung von Kosten für begleitete Fahrten) zur Einstufung als Schwarzarbeit. Auch hier wird einem Begriff (Nachbarschaftshilfe) in der amtlichen Rhetorik ein falscher Inhalt unterschoben. Man hat sonst nichts vorzuweisen, also müssen die Nachbarschaftshilfe-Vereine herhalten, um ein (regelmäßiges) Versorgungsangebot für Senioren vorzutäuschen, das - in dieser Weise organisiert - rechtlich gar nicht zulässig wäre.
Ein weiteres Beispiel für "potemkinsche Dörfer" in "gefakten" Versorgungslandschaften stellt ein Pressebericht der Kreisverwaltung über die "Demenzbetreuungsgruppe Schotten-Eichelsachsen" dar, die an einem Tag im Monat für zwei Stunden ihre Pforten öffnet (siehe Auszug aus der Pressemeldung):
"Demenzbetreuungsgruppen helfen vor Ort
Die beiden Vertreter der Demenzbetreuungsgruppe aus Schotten- Eichelsachsen Gisela Schmittberger und Reinhard Keil erzählten ihre Erfahrungen: „Zu unserer Demenz-gruppe kommen einmal im Monat rund zehn bis zwölf Demenzkranke. Wir spielen, basteln und singen mit den Betroffenen oder unternehmen auch mal einen Ausflug – alles Dinge, die das Gedächtnis anregen.“ Diese Betreuung stehe stellvertretend für das, was man überall im Vogelsbergkreis hinkriegen wolle. Vereinzelt [ Anm.: wo außer in Eichelsachsen denn noch?] gäbe es diese Angebote schon, doch leider noch nicht überall. Gerade eine Beschäftigung sei für die Erkrankten sehr wichtig, da heute viele Menschen alleine lebten."
Akribisch wurde jeder Ansatz von Kritik beseitigt...
Wie stark der Kreisseniorenbeirat in solche PR-Strategien eingebunden ist, zeigt eine Randnotiz des Beitrags über das Seniorenparadies Vogelsberg.
Erst ein paar Wochen vor der letzten Sitzung des Kreisseniorenbeirats, auf die hier Bezug genommen wird, hatte dessen Vorsitzender, Dr. Bernd Liller, sein Konzept "Nachbarschaftsquartiere gegen die Vereinsamung" vorgestellt und wurde damals folgendermaßen zitiert:
„Wir wissen, dass auch bei uns auf dem Land o f t Fälle trauriger Vereinsamung vor-kommen – nicht nur Verkehrswege und Verkehrsmittel sind in unserem Flächen-kreis für Senioren problematisch.“
Doch nun - Dementi oder Demenz? - kommt aus der Sitzung des Kreisseniorenbeirats zur allgemeinen Erleichterung (Es kann alles so schön bleiben wie es immer schon schön war im schönen Vogelsberg!) die genau gegenteilige Feststellung:
„Und schließlich gibt es noch eine gute Nachricht aus dem Gremium: Für sogenannte Nachbarschaftsquartiere gibt es im Vogelsbergkreis so gut wie keinen Bedarf.“
Und auch zu dem im Nebensatz erwähnten Thema Mobilitätsprobleme im drittgrößten und dünnstbesiedelten hessischen Landkreis gibt es - so ein Zufall - zeitgleich die Gegendarstellung. Denn hier hilft, so erfährt man so en passant, das "Anruf-Linien-Taxi" (ALT).
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren (siehe Geschäftsordnung des Gremiums: "Für die Öffentlichkeitsarbeit des Seniorenbeirates als Beirat des Kreisausschusses bleibt es bei der ausschließlichen Zuständigkeit des Landrats"), dass hier jeder Ansatz von Kritik an den Verhältnissen im Vogelsbergkreis sorgfältig getilgt wurde. Der "Tatortreiniger" oder das "Wahrheitsministerium" haben ganze Arbeit geleistet.
Bei der Vorstellung seines Konzepts der Nachbarschaftsquartiere im Mai hatte Dr. Liller seine Seniorenbeiratskollegen gebeten, in ihren Entsendungsgemeinden geeignete Quartiere ausfindig zu machen, deren nachbarschaftliche Defizite dann zunächst per Fragebogen ausgelotet werden sollten. Zu diesem recht anfechtbaren Vorgehen hatte ich unmittelbar Stellung genommen. Die falsche Methode führt selten zu brauchbaren Resultaten. Das Scheitern des Versuchs, die Legende von der guten Nachbarschaft einmal kritisch zu hinterfragen, wurde anschließend hinter einer "guten Nachricht" versteckt: Kein Bedarf an zusätzlichen Angeboten für vereinsamte alte Menschen im Vogelsbergkreis. Gerade noch ein gaaanz wichtiges "Kampf-Thema" (siehe Presse-Artikel: "Kampf der Einsamkeit im Alter"!), und dann - plopp - nur noch ein geplatzter Luftballon!
"Neudenk" und "Gutsprech" aus der Pressestelle
Wenn der Rest der Welt von Problemen spricht, ist das im postdemokratischen Vogels-berg noch lange "kein Grund zur Veranlassung". Die leistungsfähigste Abteilung im Kreishaus dürfte ohnehin die Pressestelle sein. Von dort aus treten Neudenk und Gutsprech ihren Siegeszug durch die Gehirne der Vogelsbürger an und sorgen für Verdrängung, problemblindes "Find' ich gut!", gegenseitiges Schulterklopfen, exzessives Eigenlob sowie die wahllose Überhäufung "verdienter Mitbürger" mit Ehrungen und Auszeichnungen aus nichtigem Anlass.
Und über allem schwebt eine Art "Wir-Vogelsberger-Regionalstolz", der von den Kreisoberen wie künstlicher Nebel ständig erzeugt und mantraartig bei jeder sich bietenden Gelegenheit beschworen wird. Er sorgt dafür, dass der kollektiv getrübte Blick auf die Realität gar nicht erst durch von außen eindringende unbequeme Wahrheiten gestört wird.
Bittere Wahrheiten
Doch wie steht es nun wirklich um Land und Leute im Vogelsbergkreis? Auf der Seite "Hessencampus" ist nachzulesen:
"Zum Zwecke der Ausbildung (Universität, Berufsausbildung) verlassen überdurch-schnittlich viele junge Menschen den Vogelsbergkreis und kehren häufig nicht zurück.
Mobilität im Vogelsbergkreis ist in hohem Maße auf den privaten PKW angewiesen, vor allem am Abend und an Wochenenden.
Die Studie des Berlin-Instituts zur Zukunftsfähigkeit deutscher Landkreise sieht demo-grafische Veränderungen (Bevölkerungsabnahme bei gleichzeitigem Anstieg des Durch-schnittsalters) voraus. Der relativ geringe Anteil von Hochqualifizierten an der Wohnbevölkerung deutet nach dieser Studie auf eine geringe Innovationsfähigkeit hin."
"Kluge gehen - Arme kommen" ist ein Bericht der Gießener Allgemeinen vom 17. März 2013 über eine kirchliche Tagung zum Thema "Armut auf dem Land" in der Vogelsberg-Gemeinde Burg Gmünden betitelt.
Im Vogelsberg, so berichtet der Gießener Politologe Prof. Dr. Ernst-Ulrich Huster, liege das Bruttosozialprodukt, das zwischen Gemünden und Grebenau, Alsfeld und Freiensteinau erwirtschaftet werde, niedriger als in Mecklenburg-Vorpommern, nämlich bei 21 000 Euro im Vergleich zum bundesweiten Durchschnitt mit 29 000 Euro.
Besondere Probleme im Vogelsberg seien die Abwanderung junger Menschen und »lokaler Macher« sowie der Verlust gewerblicher Arbeitsplätze. Dörfer würden zu Schlafdörfern oder gar zu »Altenheimen« (Huster). Immer mehr Infrastruktur breche weg. Weitere Probleme seien der schwindende Wert von Immobilien, fehlendes Geld für die Sanierung, auf der anderen Seite niedrige Mieten, was teilweise zu einer Armuts-wanderung von der Stadt aufs Land führe.
>> Huster kritisierte abschließend, er sehe derzeit keine politische Partei, die sich ernsthaft mit der Entwicklung der ländlichen Struktur befasse. Regierungspräsdent
Dr. Lars Witteck (CDU) ging auf die Situation Mittelhessens ein, das gegenüber der extrem starken Rhein-Main-Region keinen leichten Stand habe. Man profitiere zwar von der Nachbarschaft, doch übe diese auch einen starken Sog auf Menschen, Kapital und Ideen aus. Und wenn die Besten weggingen, dann müsse man hier die Entwick-lung mit den Zweit- und Drittbesten gestalten.
Witteck sprach weiter die erheblichen Probleme an, die riesige Infrastruktur in den Dörfern in Zukunft zu bezahlen. Das betreffe nicht nur Wasser- und Abwasser-leitungen, sondern auch »Denkmäler, die zu Zeiten des Hessenplans gebaut wurden.« Und leider hätten viele Bürgermeister jahrelang riesige Märkte an Umgehungsstraßen auf der grünen Wiese angesiedelt, »und zehn Jahre später wollen sie Geld für die Dorfentwicklung, weil auch der letzte kleine Metzger oder Bäcker direkt im Ort zugemacht hat.« Weiter heißt es:
Wer im ländlichen Bereich jetzt noch an Wachstum glaube, der lüge sich in die eigene Tasche, so Witteck, es müsse darum gehen, den Schrumpfungsprozess zu gestalten. Künftig werde der Staat vieles nicht mehr finanzieren können, und die Bürger müssten überlegen, wo sie das Heft selbst in die Hand nehmen können. Dazu müsse hinterfragt werden, welche Einrichtungen man im Dorf erhalten will und welche verzichtbar sind. Und dann liege es an jedem Einzelnen zu überlegen, was er dazu beitragen kann – »sich zurücklehnen geht nicht mehr.«
Dr. Maren Heincke (Zentrum für gesellschaftliche Verantwortung) sagte, Armut auf dem Land sei generell wenig erforscht, sie stellte Ergebnisse einer Befragung aus dem ländlichen Bereich um Trier vor. Danach definiere oft das Umfeld, ob sich Menschen als arm empfinden. Es gebe teilweise soziale Ausgrenzung, aber auch unkomplizierte nachbarschaftliche Solidarität. Gerade die Nähe im Dorf belaste viele, Arme würden sich zudem von Aktivitäten und aus der Dorfgemeinschaft zurückziehen. Berechtigte Hilfsangebote würden oft nicht angenommen, Armut werde als eigene Schuld empfunden. Als Pluspunkte werden aber auch die Überschaubarkeit im Dorf, der geringere Konsumzwang und die größeren Wohnungen – oft mit Garten – genannt. Deutlich wurde immer, dass Teilhabe und Lebensqualität ganz extrem vom Auto abhängen. <<
Ein düsteres Bild der Bevölkerungsentwicklung im Vogelsberg zeichnet in seiner Unter-suchung zur "Zukunft der Dörfer" aus dem Jahr 2011 das Berlin-Institut:
"Viele Orte des Vogelsbergkreises weisen deutliche Zeichen von Überalterung auf. Im Bundesland Hessen insgesamt beträgt der Anteil der unter 45-Jährigen 52 Prozent (2009). Im Vogelsbergkreis liegt dieser Anteil bei nur noch 48 Prozent. In einzelnen Dörfern leben sogar nur noch 30 Prozent jüngere Menschen. Der Anteil der unter 45-Jährigen, jener Generation, die noch Familien und Unternehmen gründet, Häuser baut und in gewisser Weise das Zukunftspotenzial eines Ortes bildet, hat in den vergangenen Jahren fast überall erheblich abgenommen. Das hängt auch damit zusammen, dass die geburtenstarken Jahrgänge der 1960er Jahre langsam aber sicher das Alter von 45 Jahren überschreiten und schon deshalb die Gruppe der Älteren wächst. Im Vogels-bergkreis kommen – wie in vielen ländlich peripheren Regionen – noch die niedrigen Kinderzahlen je Frau und die Abwanderung jüngerer Menschen hinzu – sie verschärfen den Alterungstrend.
"Vom Landkreis der langen Wege" berichtete am 29.11.2916 die Hessenschau und führte hierzu aus:
• >> Ein kurzer Arztbesuch, ein schneller Abstecher in den Supermarkt: Was für die meisten Hessen normal ist, kann im Vogelsberg zu einer Herausforderung werden. Nirgends sind Wege und Anfahrten länger - gerade für Ältere ein großes Problem.<<
• >> Viele Gebäude stehen leer, auch viele Ladenlokale, die Gründe kennt Edwin Schneider, Bürgermeister von Urichstein nur zu gut: Die Erben kümmern sich nicht mehr um den Besitz, leben meist in Großstädten und finden den Vogelsberg kaum attraktiv. Mit einem Bevölkerungsverlust von fast einem Prozent pro Jahr ist der Vogelsbergkreis einer der demografisch am schnellsten schrumpfenden Landkreise in Westdeutschland.<<
• >> Ein Auto hat die 83-jährige Einwohnerin von Bobenhausen II, die ihren Namen nicht nennen will, noch in der Garage: Bewegen tut sie den Wagen aber nicht mehr, gibt sie zu. "Meine Nachbarin macht das für mich, sie macht auch meinen Garten. Super, wer so was hat. Wer nicht, ist hier aufgeschmissen."<<
Eine Studie der Hochschule Fulda aus dem Jahr 2016 brachte die hässliche Kehrseite der stets amtlich bejubelten Arbeitsmarktzahlen des Vogelsbergkreises aus den letzten zehn Jahren an den Tag. Einer kontinuierlich sich erhöhenden Beschäftigungsquote, einer vergleichsweise niedrigen Arbeitslosigkeit (4,3 %), einer ebenfalls sehr niedrigen SGBII-Quote (5,5 %) sowie dem niedrigsten Anteil der Langzeitarbeitslosen an allen Arbeitslosen (26,3 %) stehen hier eine Reihe von Faktoren gegenüber, die die Arbeits-losigkeit lediglich verschleiern und sich zeitversetzt in um so höherer Altersarmut niederschlagen:
"Der Anteil atypischer Beschäftigung insgesamt ist im Vogelsbergkreis von 2008 bis zum Jahr 2014 stark angestiegen (von 38,4 % an allen Beschäftigten auf 43,7 %). Sie liegt damit deutlich über dem bundesdeutschen Wert von 39% und auch über dem Hessens (HE: 38,9%). Der Anteil der ausschließlich geringfügigen Beschäftigung bewegt sich in den letzten Jahren (seit 2006) auf ähnlich hohem Niveau und liegt im Jahr 2014 bei 20,4 % (BRD: 15,1 % und Hessen: 14,6 %). Frauen üben mit 64,2 % deutlich häufiger eine ausschließlich geringfügig entlohnte Beschäftigung aus.
[...] Die Teilzeitquote der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten liegt mit 28,8 % deutlich über dem Bundesschnitt (25,6 %) und 2,6 %-Punkte über der Quote Hessens.
87 % aller sozialversicherungspflichtigen Teilzeitbeschäftigten (Stand: Juni 2015) sind im Vogelsbergkreis Frauen (HE: 79,4%; BRD: 80,2 %). Insgesamt arbeiten 54,7 % aller beschäftigten Frauen im Vogelsbergkreis in Teilzeit (HE: 45,9 %; BRD: 46 %).
Beschäftigte im sog. Niedriglohnbereich (Vollzeitbeschäftigte mit einem Bruttoarbeits-entgelt unterhalb 2/3 des Medianentgelts) sind mit 23,1 % überdurchschnittlich im Vogelsbergkreis vertreten (HE: 17,2 %; BRD: 20,4 % - Daten des Jahres 2013, Stand 12/2015).
Das Lohniveau bzw. die Lohnentwicklung im Vogelsbergkreis kann wie folgt beschrieben werden (siehe die einschränkenden Ausführungen im Landkreis Fulda):
Der nominale Medianlohn liegt (Lohnhöhe des Jahres 2012) in der bundesweiten Betrachtung im Mittelfeld (ähnliche Größenordnung wie im Landkreis Fulda) – im Vergleich mit Westdeutschland jedoch eher niedrig. Zudem muss im Vogelsbergkreis ein vergleichsweise niedriger Nominallohnzuwachs im Zeitraum 1993 bis 2012 innerhalb Hessens konstatiert werden (bundesweit haben 133 weitere Landkreise der insgesamt 402 untersuchten Kreise einen solchen oder noch geringeren Lohnzuwachs erfahren).
13,7 % aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten besitzen im Vogelsbergkreis keinen Berufsabschluss (24,9 % davon befinden sich in einem Ausbildungsverhältnis; Datenstand 30.06.2015). In Deutschland waren zum gleichen Zeittraum 11,7 % ohne Berufsabschluss sozialversicherungspflichtig beschäftigt (HE: 12,3 %)."
Erst kürzlich (09.09.2017) erschien in dem Anzeigenblatt MK (Fulda) ein Bericht der Hochschule Fulda, in der die Gesundheitswissenschaftlerin Prof. Dr. Susanne Kümpers vom Fachbereich Pflege und Gesundheit Einblicke in ein Forschungsprojekt zu der Frage vermittelte, wie sich isolierte Menschen im Alter besser integrieren lassen (Zitat: "Diese Menschen zu erreichen ist schwieriger, als wir uns zuerst vorgestellt haben.") Der Beitrag enthält einige denkwürdige Passagen (Auszug):
„Viele ältere Menschen sind gut in ihre Familie integriert, doch auf dem Lande ziehen viele Angehörige aufgrund besserer Jobperspektiven weg. […] Zurück blieben dann häufig die Älteren, die leicht vereinsamen, wenn sie nicht schon vorher durch Nachbarschaft, Bekannte oder Freunde gut eingebunden waren. Benachteiligte Seniorinnen und Senioren seien in der Regel schlechter in Netzwerke und Freundeskreise integriert. Zum Teil hindere sie auch eine karge Rente daran, spezielle Angebote anzunehmen. „Wenn ich am Seniorencafe teilnehmen möchte, müssen mir zum Beispiel die zwei Euro für den Kaffee und Kuchen schon leicht fallen. Aber wenn das mein Budget überschreitet, was gar nicht so selten vorkommt, dann lass ich es eher bleiben“, schildert die Gesundheitsforscherin.
Durch Armut und Isolation wird eine Abwärtsspirale ausgelöst: Wer weniger aus dem Haus geht, bewegt sich weniger; körperliche Einschränkungen treten dann schneller auf. Wer sich isoliert fühlt, wird zudem schneller inaktiv und auch eher depressiv. „Menschen, die sozial isoliert sind, altern insgesamt schneller. Sie wechsweln schneller vom so genannten dritten Lebensalter, in dem man sich noch körperlich fit fühlt, in das so genannte vierte, eher gebrechliche Lebensalter.
[…] Zum Teil bringen die Fallstudien der Fuldaer auch unerwartete Einsichten. Obwohl oft davon ausgegangen wird, dass Menschen im eher ländlichen Raum besser eingebunden seien, gibt es auch dort Isolation. „Die nicht-anonymen Nachbarschaften sind nicht immer inklusiv“, sagt Susanne Kümpers. Menschen etwa, die vor 50 Jahren dorthin zugezogen sind, gelten hier zum Teil immer noch als „Zugezogene“.
Die im Dunkeln sieht man nicht...
Oder man will sie nicht sehen, weil sie nicht ins geschönte Bild passen. Laut der plötzlichen Einsichten des Kreisseniorenbeirats gibt es Vereinsamung jetzt bestenfalls noch dort, wo eigentlich die Gewinner der Landflucht wohnen müssten, in Homberg, Lauterbach und Alsfeld. Verkehrte Welt! Da berichtet wortgleich mit der amtlichen Pressemeldung und der übrigen gleichgeschalteten Journaille trotz eines zuvor verbreiteten sehr problembewussten Kommentars (siehe unten) selbst "Osthessen-News":
>> "In Homberg allerdings, so Manfred Vogel, „stirbt die Innenstadt mehr und mehr aus“. Da könnte sich das Problem stellen, dass ältere Menschen vereinsamen und keine sozialen Kontakte mehr haben. In Alsfeld und Lauterbach soll der Bedarf ebenfalls abgefragt werden, kündigte Vorsitzender Dr. Bernd Liller an. „Die Anonymität wächst mit der Höhe der Stockwerke“, sagte Liller mit Blick auf Hochhaussiedlungen. „Solange hier in den Dörfern noch Vereine aktiv und lebendig sind, wird das unproblematisch“, in den Städten hingegen „besteht eher ein Ansatz, Leute ins Gespräch zu bringen“.<<
Woher stammen solche Weisheiten? Aus eigener Sachkunde der entsandten Sach-kundigen des Kreisseniorenbeirats sicherlich nicht. Die Ableserin von der OVAG zum Beispiel, die nun wirklich in jedes Haus ihres Ablesebezirks kommt, berichtet mir da ganz andere Dinge. So belaste es oft ihr Gewissen, sagte sie mir, altersschwache einsame Menschen nach Erledigung ihrer dienstlichen Obliegenheiten in ihren maroden Fachwerkhäusern, in denen oft nur noch ein Raum geheizt sei, einfach sich selbst überlassen zu müssen.
Am 21.07.2017 war auf Osthessen-News ein hervorragender Kommentar von Carla Ihle-Becker erschienen, der genau diesen Eindruck bestätigt. Unter dem Titel "Arm, alt und einsam - warum haben Rentner eigentlich keine Lobby?" heißt es dort u.a.:
>> Alte Menschen, deren Rente vorne und hinten nicht reicht, die nicht wissen, wovon sie den kaputten Kühlschrank ersetzen oder die Schuhe besohlen lassen können, für die der Begriff Restaurantbesuch oder Urlaubsreise eine Utopie und ein Geschenk für einen lieben Menschen eine Unmöglichkeit darstellt - wir alle wissen ganz genau, dass es sich dabei nicht um exotische Einzelschicksale in einem unterentwickelten Land handelt. Die Zahlen, die wir für unsere Region recherchiert haben, sprechen eine deutliche Sprache. Warum begegnet uns aber das Thema Altersarmut so wenig konkret in Gestalt von Menschen aus dem eigenen Umfeld oder Bekanntenkreis? Eher spenden wir für Opfer von Naturkatastrophen, Hungersnöten oder für Kriegsopfer, als dass wir uns um die Rentnerin in der Nachbarschaft kümmern, die immer so schnell vorbeihuscht.
Die zahlenmäßig nicht eben kleine Gruppe von älteren und alten Menschen ohne jeden finanziellen Spielraum, ohne Sparguthaben oder wenigstens einen Notgroschen lebt in unmittelbarer Nähe zu uns - und ist doch irgendwie unsichtbar. Solange diese Men-schen ihr Dasein mit vielen Entbehrungen irgendwie auf die Reihe kriegen und mit der mehr als mageren Rente doch über die Runden zu kommen scheinen, bleibt ihre Not verborgen - oder ein rein theoretisches Problem aus der Armutsstatistik. Offenbar verhindert eine tief sitzende (und definitiv falsche) Scham, dass sich die Betroffenen zu Wort melden, gegen ihren Notstand wehren, solidarisieren, organisieren und ihre Stimme gegen diesen Missstand erheben. [...] Vor allem Frauen, die ihren Beruf aufgegeben haben, um ihre Kinder aufzuziehen, werden bei den Rentenbezügen für diese meist alternativlose Lebensentscheidung bitter bestraft. Und was soll ein heute 70-Jähriger glauben, der über 40 Jahre womöglich harte körperliche Arbeit verrichtet hat, wenn er die paar Huller betrachtet, die er nach Steuerabzug rausbekommt?
"Ich will doch niemandem zur Last fallen, keinem auf der Tasche liegen", heißt häufig die Antwort, wenn man nachfragt. Und 'aufs Amt' zu gehen und um staatliche Unterstützung zu bitten, scheint für die Meisten überhaupt keine Option zu sein. Sicher, man kann sich einschränken beim Konsum, beim Essen. Doch schon die Höhe der Miete ist keine Verhandlungssache. Und wer sich keinen Lokal-, Theater oder Kinobesuch leisten kann, wer niemals jemanden einladen oder einen ausgeben kann, sitzt trübselig zuhause und verkümmert einsam. <<
Nein, Rentner haben im Vogelsbergkreis keine Lobby, schon gar nicht in diesem Kreisseniorenbeirat, den kein Mensch braucht. Wie kann es angehen, dass sich hier ausgerechnet die Senioren-Vertreter des armen Vogelsbergkreises im Angesicht der ja schließlich aus freien Stücken thematisierten Problematik "trauriger Vereinsamung" nur wenige Monate später auf die Linie "Friede, Freude, Eierkuchen", "Wir haben was wir brauchen!" und "Im Vogelsberg lebt es sich im Alter bestens!" einschwören lassen? Vielleicht liegt das an der sozialen Herkunft dieser Ehrenamtlichen. Es scheint eben genügend Leute zu geben, denen es so gut geht, dass ihnen die sozialen Probleme ihrer Altersgenossen nicht unbedingt auf den Nägeln brennen. Und genau die sind im Ehrenamt leider weit überrepräsentiert. Einer Untersuchung des Instituts für Volkswirtschaftslehre der Uni Rostock zufolge zeigen Arbeitslose das schwächste ehrenamtliche Engagement. Auch Menschen mit niedrigem Einkommen engagierten sich seltener. Je höher dagegen die Bildung und das Haushaltseinkommen, desto größer ist die Bereitschaft zum ehrenamtlichen Engagement.
Und genau so verhält es sich, wenn es darum geht, eigene Interessen einzufordern oder einfach nur in Anspruch zu nehmen, was einem laut Gesetz zusteht. Viele, die im Alter Anspruch auf Sozialhilfe bzw. Grundsicherung hätten, stellen erst gar keinen Antrag. "Die Rentenversicherer schätzen", schreibt die Berliner Zeitung, "dass mehrere Hundert-tausend alte Menschen bisher aus Scham auf Sozialhilfe verzichten." – Quelle: http://www.berliner-zeitung.de/16150608 ©2017 und siehe OsthessenNews.
Quartierskonzepte zur Vernetzung aller gesellschaftlichen Akteure vor Ort, generations-übergreifende Treffpunkte und Wohngemeinschaften z.B. für Menschen mit demen-ziellen Veränderungen usw. brauchen vor allem diejenigen, die arm und ausgegrenzt sind. Doch gerade die erreicht man nicht durch Umfragen zur Bedarfsfeststellung. Trotzdem werden immer wieder Aktionen wie Dr. Lillers "Nachbarschaftsquartiere" gestartet, die an den Betroffenen vorbei gehen und dann mit der Begründung schnell wieder begraben werden, es habe sich kein Bedarf gezeigt. Vielleicht gut gemeint, aber schlecht gemacht. Und am Ende wird das Desaster groteskerweise noch als "gute Nachricht" verkauft.
Es ist schon ein paar Jahre her, da schrieb ich dem Landrat Görig folgenden Brief:
"Direkt zu Görig"
Autor Ulrich Lange am 30. Juli 2014
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Soziale Sicherheit
Sehr geehrter Herr Görig,
"Die im Dunkeln sieht man nicht...", heißt es in Brechts "Moritat von Mackie Messer".
Es ist leider nicht nur mein Eindruck, dass die Kreispolitik recht selbstgefällig auftritt und überwiegend daran interessiert ist, ihre erfolgreichen Aktivitäten bei der Bewältigung der Probleme des demografischen Wandels in den Vordergrund zu stellen. Dies kann dazu führen, dass die Lebenslage der vielen Senioren, die nicht zu den verschämten Reichen gehören und statt mit dem Golfcaddy mit dem Rollator unterwegs sind, aus dem Blickfeld gerät, weil man mit dem Hinweis auf Probleme - zumal, wenn sie nur schwer zu lösen sind - keinen Hund (sprich: Wähler) hinter dem Ofen hervorlockt.
Aber wäre es nicht ehrlicher und sachgerechter, statt die Bürger mit Gute-Laune-Themen zu verwöhnen, durch deutliche Benennung der auf die gesamte Gesellschaft zurollenden Pflegeproblematik auf "schwierige Zeiten" vorzubereiten, die von allen große Opfer verlangen werden? Ich nenne nur die Zeitbombe der Pflege durch Angehörige. 75 Prozent der Pflegebedürftigen werden von Angehörigen versorgt, die hierdurch nicht nur an die Grenzen ihrer Belastbarkeit geführt und großen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt werden, sondern zusätzlich ein hohes Armutsrisiko eingehen, weil ihr Engagement, das der Gesellschaft viele Milliarden Pflegekosten erspart, finanziell kaum gewürdigt wird. Dabei würde das gesamte Pflegesystem des Landes auf einen Schlag zusammenbrechen, wenn es denjenigen, die sich für die Pflege naher Angehöriger oder Freunde aufopfern, einfallen würde, für ihre berechtigten Interessen auch nur einen Tag in den Streik zu treten.
Wo bleiben die Erhebungen der Verwaltung zur Zahl der Personen, die einen allein nicht mehr existenzfähigen Menschen rund um die Uhr versorgen oder zur steigenden Zahl allein stehender Senioren, die vielleicht längst pflegebedürftig sind, aber sich noch schlecht und recht allein durch den Alltag quälen? Wo die aufsuchende Beratung dieser "Helden des Alltags"? Wo ein ausreichendes Angebot an Tagesheimen zur Entlastung der Pflegenden? Wo die Quartiersmanager, die Netzwerke zur kleinräumigen Selbstorgani-sation (Nachbarschaftshilfe, Patenschaften für Pflegende oder Personen mit nieder-schwelligem Unterstützungsbedarf) aufbauen, weil dies nur mit Ehrenamtlichen nicht funktionieren wird?
Wo sind die flammenden Appelle aus Politik und Verwaltung an die Senioren, die das Thema Pflegebedürftigkeit leider oft so lange wie möglich verdrängen, ihre eigenen Interessen wahrzunehmen und wenigstens einmal für einen aktiven Seniorenbeirat in ihrer Gemeinde einzutreten? Wo sind die Programme für seniorengerechtes Wohnen und Gesundheitsvorsorge, die den Betroffenen das Pflegeheim für Jahre und Jahrzehnte ersparen können? Und wo sind die Ideen, durch die die wachsende Altersarmut der zukünftigen Gererationen , die nicht durch den "demografischen Wandel", sondern durch Lohnabbau und systematische Zerstörung eines zuverlässigen staatlichen Sozialsystems verursacht wurde, wenigstens teilweise kompensiert werden könnte (z.B. Schaffung billigen Wohnraums für Senioren durch planmäßige Umwandlung leer stehender Gebäude mittels Baugenossenschaften o.ä.)? Es gibt so viel zu tun, dass für Selbstzu-friedenheit, Selbstbeweihräucherung oder ständiges gegenseitiges Schulterklopen keine Zeit mehr vergeudet werden sollte!
Mit freundlichem Gruß
Ulrich Lange
Wer Volkes Stimme hören will, der geht am besten - statt "direkt zu Görig" - mal direkt zum Friseur! Habe ich neulich erst getan und folgende Erkenntnis gewonnen:
Auch die Vogelsbürger lassen sich mit irgendwelchen PR-Sprüchen, Vogelsbergsong-Geträller (nanana nananana), Placebo-Politik und potemkinschen Dörfern nicht mehr hinter die Fichte führen! Dass es im Vogelsberg überhaupt nicht so toll aufwärts gehe, wie ständig behauptet werde, so sagte mir da die Coiffeuse in aller gebotenen Offenheit geradeheraus in den Wandspiegel, merke doch mittlerweile jedes Kind. Recht hat sie.
U. Lange